Eine private Krankenversicherung darf nicht über eine App für ärztliche Fernbehandlungen durch im Ausland ansässige Ärzte werben. Das entschied nun der BGH. Das Urteil hat große Bedeutung für die Praxis.

Ein eingetragener Verein zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs hat das Krankenversicherungsunternehmen Ottonova aus München erfolgreich auf Unterlassung verklagt. Das Oberlandesgericht (OLG) München entschied im Juli 2020, dass die geschaltete Werbung unzulässig sei (Urt. v. 09.07.2020, Az. 6 U 5180/19). Der unter anderem für das Wettbewerbsrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat die Unzulässigkeit der Werbung für einen digitalen Arztbesuch nun bestätigt (Urt. v. 09.12.2021, Az. I ZR 146/20).

Werbung für digitale ärztliche Versorgung

Das Krankenversicherungsunternehmen hatte auf seiner Webseite für das Angebot eines „digitalen Arztbesuchs“ mittels einer App bei in der Schweiz ansässigen Ärzten geworben. In Deutschland lebenden Patienten wurde dadurch angeboten, über ihr Smartphone von Ärzten, die im Ausland sitzen, für nicht näher konkretisierte Behandlungsfälle und -situationen Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen zu erhalten. Der Wettbewerbsverband sah in dieser Werbung einen Verstoß gegen das Verbot der Werbung für Fernbehandlungen nach § 9 Heilmittelwerbegesetz (HWG).

Das Landgericht (LG) München I hatte einen solchen Verstoß gegen § 9 HWG angenommen und die Werbung verboten (Urt. v. 16.07.2019, Az. 33 O 4026/18). Hiergegen legte das Krankenversicherungsunternehmen Berufung ein.

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Änderung der Rechtslage im Berufungsverfahren

Im Laufe des Berufungsverfahrens wurde § 9 HWG durch das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) vom 9. Dezember 2019 ergänzt. Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes war jede Werbung für Videosprechstunden zum Zweck der Diagnose und Therapie von Krankheiten generell verboten. Mit dem DGV wurde § 9 HWG jedoch ein neuer Satz 2 hinzugefügt, nach dem das Verbot in Satz 1 nicht auf die Werbung für Fernbehandlungen anzuwenden ist, die unter Verwendung von Kommunikationsmedien erfolgen, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist.

Damit änderte sich die Rechtslage in Bezug auf das Werbeverbot für Fernbehandlungen während des anhängigen Berufungsverfahrens. In diesem Fall muss das beanstandete Verhalten dann sowohl zum Zeitpunkt der Vornahme als auch zum Zeitpunkt der neuen Entscheidung rechtswidrig sein.

OLG München: Verstoß sowohl gegen die alte als auch die neue Fassung von § 9 HWG

Das OLG München hatte durch die Werbung einen Verstoß sowohl gegen die alte als auch gegen die neue Fassung von § 9 HWG angenommen. Es erklärte, das Krankenversicherungsunternehmen habe für eine digitale ärztliche Primärversorgung geworben, bei der in Deutschland befindliche Patienten von im Ausland ansässigen Ärzten Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen erhalten könnten, ohne dafür persönlich zum Arzt gehen zu müssen. Nach altem Recht sei jegliche Werbung für Fernbehandlungen unzulässig – und zwar unabhängig davon, ob die beworbene Behandlung selbst unzulässig sei. § 9 S. 1 HWB verbiete insofern nicht die Fernbehandlung an sich, sondern die Werbung hierfür.

Auch nach neuem Recht sei die Werbung im Ergebnis unzulässig, so das OLG. Der Gesetzgeber habe trotz der Gesetzesänderung an der grundsätzlichen Wertung festgehalten, dass eine Werbung für Fernbehandlungen wegen der Gefahren für die Gesundheit im Regelfall nicht zulässig sei. Lediglich in dem Fall, dass „nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist“, sei die Werbung mit Fernbehandlungen ausnahmsweise erlaubt. Ein allgemein anerkannter fachlicher Standard sei in dem vorliegenden Fall jedoch nicht erkennbar. Im Gegensatz zu den Vorgaben im ärztlichen Berufsrecht, die sich auf den jeweiligen Einzelfall konzentrieren, sei im Rahmen des neuen § 9 HWG eine abstrakte Bewertung erforderlich. Denn die Werbung richte sich unabhängig von einer konkreten Behandlungssituation an eine Vielzahl von Personen. Grundsätzlich erfordere jeder Krankheitsverdacht nach allgemeinen fachlichen Standards eine Basisuntersuchung durch Funktionsprüfung und Besichtigung des Patienten bzw. der Patientin, was insbesondere für Krankschreibungen gelte, so das OLG.

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Der Begriff der „nach allgemein anerkannten fachlichen Standards“

Der BGH hat das Urteil des OLG nun bestätigt und entschieden, dass die beanstandete Werbung gegen § 9 HWG in seiner alten und in seiner neuen Fassung verstößt.

Vor der Entscheidung wurde mit Spannung erwartet, ob sich der BGH zum Begriff der „nach allgemein anerkannten fachlichen Standards“ äußern werde. Vertreten wurde bisher zum Teil, dass ein gewisser dokumentierter fachlicher Konsens von mehreren unabhängig agierenden Sachverständigen dahin notwendig sei, dass die konkret beworbene Fernbehandlung eine persönliche Untersuchung des Patienten nicht erfordere. Eine ausschließlich auf unternehmensinternen Evaluationen bzw. nur auf individuellen Einschätzungen externer Sachverständiger beruhende Expertise zur Frage der Erforderlichkeit einer persönlichen Untersuchung dürfe wahrscheinlich regelmäßig nicht ausreichen. Das Tatbestandsmerkmal „allgemein anerkannter fachlicher Standard“ setze insofern eine gewisse fachliche objektive Akzeptanz auf Basis einer wissenschaftlichen Diskussion voraus, die nicht geschäftlich interessengesteuert sei.

Der BGH betonte nun, dass mit den allgemein anerkannten fachlichen Standards nicht die Regelungen des für den behandelnden Arzt geltenden Berufsrechts gemeint seien. Es komme daher nicht darauf an, ob die beworbene Fernbehandlung den Ärzten in der Schweiz schon seit Jahren erlaubt ist. Der Begriff der allgemein anerkannten fachlichen Standards sei vielmehr unter Rückgriff auf den entsprechenden Begriff in § 630a Abs. 2 BGB, der die Pflichten aus einem medizinischen Behandlungsvertrag regelt, und die dazu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze auszulegen. Danach könnten sich solche Standards auch erst im Lauf der Zeit entwickeln und etwa aus den Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften oder den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß §§ 92, 136 SGB V ergeben.

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