29.11.2019
Auch einem verurteilten Mörder steht ein Recht auf Vergessenwerden im Internet zu, befand das BVerfG. Presseunternehmen werden sich wohl künftig vermehrt mit Maßnahmen zum Schutz der Persönlichkeitsrechte in Online-Archiven auseinandersetzen müssen.
Das Internet vergisst nichts – diese Erfahrung musste auch ein vor fast 40 Jahren wegen Mordes verurteilter Mann machen, als er 17 Jahre später auf einen Artikel der Zeitschrift DER SPIEGEL stieß. Der Artikel berichtet über die damals aufsehenerregende Tat und nennt dabei den vollen Namen des heute 80-jährigen Paul T. Das wollte sich Paul T. nicht gefallen lassen, mahnte die Spiegel Online GmbH ab und erhob im Anschluss Unterlassungsklage mit dem Ziel, die Berichterstattung unter Nennung seines Familiennamens zu verbieten. Der Fall wanderte durch alle Instanzen bis zum Bundesgerichtshof (BGH) und landete schließlich beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG).
Der Erste Senat gab nun der Verfassungsbeschwerde des Betroffenen statt (Beschluss vom 6. November 2019, Az: 1 BvR 16/13). Zumindest hätten die Gerichte überprüfen müssen, ob dem „Spiegel“ nicht andere Maßnahmen zumutbar waren, um die Persönlichkeitsrechte des Mannes zu wahren.
Mord auf Yacht „Apollonia“
Paul T. war im Jahre 1982 wegen zweifachen Mordes und versuchten Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Er hatte an Bord der Yacht „Apollonia“ auf hoher See zwischen den Kanaren und der Karibik im Dezember 1981 zwei Menschen erschossen und einen weiteren schwer verletzt. Im Jahr 2002 wurde er nach 17 Jahren aus der Haft entlassen.
Der Fall löste seinerzeit ein großes Medienecho aus. Der SPIEGEL veröffentlichte in den Jahren 1982 und 1983 in seiner gedruckten Ausgabe drei Artikel über die Tat und nannte dabei den vollen Namen von Paul T.
Seit 1999 sind die Berichte in einem Online-Archiv des SPIEGELS frei zugänglich und kostenlos abrufbar. Bei Eingabe des Namens des Mannes in einer gängigen Suchmaschine landen die Artikel unter den ersten Treffern.
Daraufhin wandte er sich zunächst an das Landgericht (LG) Bremen, das ihm einen Unterlassungsanspruch gemäß §§ 823, 1004 BGB analog zusprach. Die angegriffene Veröffentlichung verletze ihn rechtswidrig in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Artikel 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten blieb erfolglos.
Der BGH hatte schließlich mit Urteil vom 13. November 2012 auf die Revision der Beklagten einen Unterlassungsanspruch verneint. Diesem Urteil hat das BVerfG nunmehr eine Absage erteilt.
Kein pauschales „Recht auf Vergessenwerden“
Paul T. möchte wieder ein normales Leben führen und sieht sich dabei durch die noch abrufbaren Berichte gestört. Er hat geltend gemacht, auch ein Kapitalverbrecher habe ein Recht auf Resozialisierung. Die Straftat liege lange zurück und er sei jetzt von Menschen umgeben, die davon nichts wüssten. Dadurch, dass heutzutage immer mehr Menschen gegoogelt würden, bestehe eine große Gefahr seiner Identifizierung und sozialer Ausgrenzung. Auf der anderen Seite bedienen Presseunternehmen das Informationsinteresse der Öffentlichkeit und haben auch selbst ein Recht auf freie Meinungsäußerung.
Unmittelbar gelten Grundrechte nur im Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Allerdings können sie auch mittelbar zwischen Privatpersonen und Unternehmen wirken, etwa wie hier bei privatrechtlichen Streitigkeiten. Dann sind die Grundrechte der Beteiligten gegeneinander abzuwägen. Hier verbietet sich eine pauschale Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Seite, vielmehr muss der Richter im Einzelfall entscheiden, welchem Gut er den höheren Stellenwert beimisst. Es gibt deshalb kein pauschales „Recht auf Vergessenwerden“, sondern es ist immer genau zu prüfen, welche Seite der Waage überwiegt.
Allgemeines Persönlichkeitsrecht vs. Pressefreiheit
Das BVerfG musste eine klassische Abwägung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht von Paul T. auf der einen Seite und der Pressefreiheit auf der anderen Seite vornehmen.
Das informationelle Selbstbestimmungsrecht ist eine besondere Ausprägungsform des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und bezeichnet das Recht jeder Person, selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen. Hier ging es aber gerade nicht vorrangig um den Schutz der Daten von Paul T., sondern vor allem um Maßnahmen gegen die Verbreitung von Berichten über ihn, die der Information der Öffentlichkeit dienen. Es hat also ein Kommunikationsprozess stattgefunden. In einem solchen Fall geht es um den äußerungsrechtlichen Schutzgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.
Grundsätzlich zählt es zu den Aufgaben der Presse, die Öffentlichkeit über Straftaten zu informieren. Dazu kann auch die namentliche Nennung von Straftätern gehören. Allerdings nimmt das öffentliche Interesse an der Berichterstattung über Straftaten ab, je mehr Zeit seit Begehung der Tat vergangen ist. Spiegelbildlich erhöht sich das Recht des Betroffenen, „allein gelassen zu werden“, so das BVerfG. Bei der Frage, ob eine Berichterstattung noch zulässig ist, kommt es nach den Richtern in Karlsruhe maßgeblich auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung an. Auch eine ursprünglich legitime Veröffentlichung kann nach Ablauf einiger Zeit unrechtmäßig werden, wenn der Täter hierdurch erheblich neu und zusätzlich beeinträchtigt wird. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das Interesse an der Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft.
Im digitalen Zeitalter ist zudem die dauerhafte Verfügbarkeit von Informationen zu berücksichtigen. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht bekommt so eine gänzlich andere Dimension. Informationen können sofort im Internet landen und wenn sie einmal dort sind, gehen sie in rasanter Geschwindigkeit um die Welt. Die dauerhafte Verfügbarkeit der Artikel mit Nennung seines vollständigen Namens stellen eine erhebliche Beeinträchtigung von Paul T. dar.
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Neue Anforderungen an Presseunternehmen
Die Freiheit der Presse, zu entscheiden, worüber sie wann, in welcher Form und wie lange sie berichtet, zählt zum Schutzbereich der grundrechtlich geschützten Pressefreiheit. Es steht Presseunternehmen auch generell frei, die Öffentlichkeit mithilfe von Online-Archiven über lange zurückliegende Ereignisse zu informieren. Die Verantwortung für die Rechtmäßigkeit der Inhalte liegt bei dem jeweiligen Unternehmen. Dies kann jedoch nicht bedeuten, dass ein Verlag verpflichtet ist, sämtliche einmal in das Internet gestellte Beiträge von sich aus regelmäßig zu überprüfen. Eine Überprüfung ist jedoch erforderlich, wenn sich betroffene Personen an einen Verlag gewendet haben und Löschung oder Berichtigung verlangen. Es muss dann festgestellt werden, ob ein Anspruch des Betroffenen besteht. Hierbei ist eine neue Abwägung der widerstreitenden Interessen erforderlich. Insbesondere kann auch berücksichtigt werden, inwiefern der Betroffene selbst dazu beigetragen hat, dass er weiterhin Thema in der Öffentlichkeit ist.
Das BVerfG hat weiter ausgeführt, es müssten Zwischenlösungen zwischen einerseits der vollständigen Löschung individualisierender Angaben und anderseits deren Veröffentlichung zum Nachteil der betroffenen Personen gefunden werden. Insbesondere müssen Medienunternehmen auch Möglichkeiten überprüfen, die Auffindbarkeit der Inhalte eines Textes durch Suchmaschinen zu begrenzen.
Keine hinreichende Auseinandersetzung mit Zwischenlösungen
Nach Ansicht des BVerfG hat sich der BGH im konkreten Fall nicht hinreichend mit abgestuften Schutzmöglichkeiten auseinandergesetzt, die dem SPIEGEL eher zumutbar sein könnten als die vollständige Löschung des Artikels oder die digitale Schwärzung des Namens. Insbesondere hätte überprüft werden können, ob die Auffindbarkeit des Artikels mittels namensbezogener Suchabfrage durch technische Vorkehrungen eingeschränkt werden kann.
Die konkrete Ausübung des „Rechts auf Vergessenwerden“ kann daher unter Umständen im Einzelfall Zwischenlösungen erfordern. Einerseits soll der Zugriff auf den Originaltext möglichst weitgehend erhalten bleiben, andererseits muss das Interesse der betroffenen Personen im Einzelfall hinreichend gewahrt werden. Welche Maßnahmen zumutbar sind, werden Fachgerichte zu entscheiden haben.
Vorerst werden die SPIEGEL-Artikel unverändert im Internet erhalten bleiben. Das BVerfG hat den Rechtsstreit zurück an den BGH überwiesen, der sich bald erneut damit beschäftigen wird.
Wir werden berichten.